Elsaß-Lothringer
In den "Reichslanden" trat am 1. Jan. 1874 die Reichsverfassung in Kraft. Bei den im gleichen Jahr stattfindenden Reichstagswahlen wurden in den Reichslanden 15 "Protestler" gewählt, die am 18. Febr. 1875 im Reichstag vergeblich versuchten, nachträglich eine Abstimmung der Bevölkerung vom Elsaß und von Lothringen über ihre Zugehörigkeit zu Deutschland oder Frankreich stattfinden zu lassen.
1877 gewann die liberale Partei der Elsässer (Autonomisten) fünf Sitze. Sie stellte sich auf den Boden der gegebenen Verhältnisse und erstrebte für ihr Land ein möglichst großes Maß von Selbständigkeit.
Durch die Wahlen von 1881 und 1884 kamen aus den Reichslanden nur Protestler und Klerikale in den Reichstag. Und seit 1903 schlossen sich die reichsländischen Abgeordneten teils den Nationalliberalen an, teils gingen sie ins Zentrum über.
1892 wandte sich der "Figaro" an eine Reihe deutscher Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst mit der Frage, wie sie zur Rückgabe von Elsaß-Lothringen, evt. im Tausch gegen französische Kolonien, oder die Umwandlung der Reichslande in einen neutralen Staat denken.
Exemplarisch ist die Antwort des Prof. Lujo Brentano:
"...Ich halte die Rückgabe von Elsaß-Lothringen an Frankreich oder die Neutralisierung dieser Gebiete für unvollkommen unmöglich. Keine Gegenleistung, sei es in Geld oder in der Abtretung von Tonkin oder Madagaskar, würde jemals vom deutschen Volke angenommen werden. Die Erklärung dafür muß man in der Geschichte suchen. Straßburg wurde seinerzeit mitten im Frieden Deutschland durch Ludwig XIV. entrissen. Das Gefühl für diese schmachvolle Ungerechtigkeit ist im deutschen Volke niemals erloschen, zumal das Elsaß, solange es französisch war, Frankreich immer als Einfallstor gegen Deutschland gedient hat. Deutschland wird niemals damit einverstanden sein, daß dieses für seine Geschichte so gefährliche Gebiet jemals wieder in fremde Hände kommt, solange in Europa Gewehre und Kanonen über das Schicksal der Völker entscheiden. Ich will nicht bestreiten, daß eine große Anzahl der Bewohner von Elsaß-Lothringen noch wider ihren Willen Deutsche sind, und mit Bitterkeit ihre Gefühle den poltischen Interessen Deutschlands geopfert sehen. Ich bestreite ebensowenig, daß der Entschluß Deutschlands, Elsaß-Lothringen um seiner Sicherheit willen zu behalten, diesem Lande gleichzeitig schwere Opfer an Geld und Menschen auferlegt. Aber Sie dürfen die Zahl der Elsaß-Lothringer nicht überschätzen, deren Liebe zu Frankreich den Sie über ihre anderen Interessen davonträgt. Die Masse der elsässischen Bevölkerung ist unter der französischen Herrschaft nicht französisch geworden. Ich hoffe, daß Sie nicht annehmen, ich hätte, wenn ich das sage, auch nur die geringste Absicht, Sie zu verletzen; aber Sie glauben vielleicht, daß ich in utopistischen Illusionen befangen bin. Wenn das der Fall sein sollte, so erlauben Sie mir, daß ich Ihnen klassische Zeugen für meine Behauptung vorführe: Im Jahre 1869, also kurze Zeit vor dem Kriege, richteten die Herren Charles Kestner, Louis Chauffour, J. B. Rudolf, Dr. Klippel, Alfred Köchlin und August Scheurer aus Mühlhausen eine Aufruf in deutscher Sprache an die Arbeiter von Elsaß-Lothringen. Warum in deutscher und nicht in französischer Sprache? In ihrem Aufruf antworteten sie selbst auf diese Frage mit folgenden Worten: 'Einzig und allein deshalb, weil die Mehrheit und die überwiegende Mehrheit des elsässischen Volkes deutsch denkt, deutsch fühlt, deutsch spricht, ihren Religionsunterricht in deutscher Sprache empfängt, nach deutscher Sitte lebt und die deutsche Sprache nicht vergessen will. Eine große Zahl unter ihnen sprechen, schreiben und lesen freilich auch französisch, aber auch die, die Französisch gelernt haben, denken, fühlen und unterhalten sich miteinander trotzdem auf deutsch, und daurm sprechen wir zu ihnen in der Sprache ihrer Mütter, der Sprache ihrer Kindheit, der Sprache, in der sie ihre Kinder erziehen und liebkosen, ind er sie um ihre Frauen werben und sich beim Tode ihrer Eltern trösten.'"